„Vater“,
Agnes unterbrach ihren Vater bei seinen Überlegungen. Abrupt
drehte sich der Graf um. Die junge Frau zuckte erstaunt zusammen.
„… ihr habt nach mir schicken lassen?“,
ergänzte sie unsicher. Als sie die Miene ihres Vaters sah, waren
alle Gedanken, die sie sich
an diesem Morgen über das Gespräch mit ihm gemacht
hatte, wie
eine Seifenblase zerplatzt. Sie spürte wie sich ein
Kloß in
ihrer Kehle festsetzte. Endlich, hatte Agnes sich ausgemalt, endlich
würde er ihr den Ehemann zu erkennen geben, den er
für sie
ausgesucht hatte. Sie war schon fast sechzehn, ein Alter, zu dem jede
junge Frau aus gutem Hause unter der Haube war und ihrem Ehemann den
erhofften Erben geschenkt hatte.
Steif ging sie durch den Raum und nahm auf dem Sessel beim Kamin Platz,
wo ihr Vater stumm hingezeigt hatte. Sie zitterte, doch nicht vor der
Kälte, die schon seit Wochen in der ungeheizten Burg
festsaß. Ihr ganzes Inneres schrie auf. Sie spürte
instinktiv, dass sie das, was ihr Vater jetzt zu ihr sagen
würde,
nicht hören wollte. Doch ihre gute Erziehung zwang sie,
sittsam
mit kerzengeradem Rücken an der vorderen Stuhlkante sitzen zu
bleiben.
Mit einem Seufzen ließ sich der Graf in den Lehnstuhl
gegenüber sinken. Lange, viel zu lange für Agnes
starrte er
in die nicht vorhandenen Flammen im Kamin.
„Mein liebes Kind …“, die Stimme ihres
Vaters war
kaum zu hören, „… du musst von hier fort
…“
Agnes holte hörbar Luft. Sie konnte die Spannung nicht
ertragen.
Noch konnte sie an sich halten, um nicht aufzuspringen und den alten
Mann zu schütteln, damit sie endlich Gewissheit über
ihre
Zukunft bekäme. Im Geiste schrie sie ihn an. All die Stunden,
Wochen, Monate, Jahre, die sie mit Stickerei, höflicher
Konversation, Lautespiel, Pflege des Kräutergartens
für die
Hausapotheke und dekorativem Herumsitzen bei Besuchen verbracht hatte,
schleuderte sie ihm in ihren Gedanken ins Gesicht. All das
wofür?
Wie in einem Fieber rasten ihr die Vorwürfe durch den Kopf.
Sie
krallte die Finger so fest in die hölzerne Lehne des Sessels,
dass
es schmerzte. Wie in einem Echo hallten ihr die Worte der Gouvernante
durch den Kopf, „Haltung bewahren, Kind, Haltung
bewahren“.
Plötzlich musste sie husten. Ihr Körper rebellierte
gegen den
Kloß in ihrem Hals und wollte den Druck der letzten Jahre
ausspeien. Der Graf schreckte hoch.
„Alles in Ordnung?“
Agnes gelang ein leichtes Nicken. Ihr Vater gab sich einen
Stoß und setzte zu seiner Rede an.
„Es ist ein offenes Geheimnis, dass Enigor am Ende ist. Wir
haben
jeden verfügbaren Mann in den Kampf geschickt. Auf den Feldern
verkommen die Ernten, in den Dörfern herrscht Hunger und
Elend, in
den Wäldern wüten Wölfe und Wildschweine,
weil keiner
mehr da ist, sie zu jagen …“
Der alte Graf rückte sich im Sessel zurecht, so als
würde der
Albtraum auf der anderen Lehne vielleicht geringer sein. Agnes starrte
ihn an. Müde fuhr ihr Vater fort.
„... in ein paar Tagen wird der Graf von Ald die Grenzen
stürmen und in noch kürzerer Zeit die Burg
erobern.“
Mit Tränen in den Augen sah er seine Tochter an.
„Du musst fort von hier …“, wiederholte
er die Worte, mit denen er begonnen hatte.
Agnes verlor die Fassung. Sie warf sich auf die Knie und grub den Kopf
in den Schoß ihres Vaters.
„Was wird aus mir?“, stammelte sie. „Und
was wird aus euch?“
Zögernd strich der Graf über den Schleier seiner
Tochter.
Kurz überlegte er, ob er ihr einen Hoffnungsschimmer schenken
konnte, aber es fand sich nichts.
Mit leiser Stimme schilderte er Agnes, was auf sie zukommen sollte.
Noch in dieser Nacht würde ein kleines Grüppchen von
nun
heimatlosen alten Männern, Frauen und Kindern nach Landrion
aufbrechen, um dort in einem der Dörfer Aufnahme, Schutz und
Nahrung zu finden. Agnes sollte als Bauersfrau getarnt eine von ihnen
sein und bis zum Fürstensitz von Landrion weiterreisen, wo sie
sich unter den Schutz von Fürst Martin begeben sollte. Das sei
noch das beste Schicksal, das der Graf seiner Tochter anbieten
könne. Einen Brief solle sie mitbekommen, mit der
höflichen
Bitte, Agnes als Mündel zu akzeptieren bis ein Ehemann
gefunden
werden konnte, der die Pflicht für sie zu sorgen gerne
übernehmen wollte.
Agnes spürte die Hand ihres Vaters unter ihrem Kinn. Sanft hob
er
ihren Kopf und suchte Blickkontakt. Eindringlich sprach er weiter.
„Heute Nacht wirst du diese Burg verlassen – als
eine Frau
aus dem Volk. Enigor wird aufhören zu existieren und damit
alle
Titel und Ländereien. Ich will Fürst Martin
eindringlich
bitten, jemanden für dich zu finden, der zumindest bei Hofe
dient,
einen Ritter vielleicht, wenn Fortuna ihren Segen dazu spendet, aber
versprechen kann ich dir nichts. Du wirst seinem Gutdünken
ausgeliefert sein.“
In diesem Augenblick hasste Agnes ihren Vater, ihr bisheriges
unnützes Leben ohne Eigenbestimmung – immer dem
Willen von
jemand anderem ausgeliefert – und sie hasste sich. Was konnte
sie? Welche Fähigkeit hatte sie, um alleine zu
überleben?
Wie in Trance sah sie durch ihren Vater hindurch. Auf ihren Lippen
formten sich Worte, die nicht dem entsprachen, was sie dachte.
„Ja, Vater, wie ihr wünscht.“
Langsam stand sie auf und wandte sich zur Tür.
„Kann ich etwas von meiner Habe mitnehmen?“
„Nichts was dich zur Tochter eines Grafen macht“,
kam die knappe Antwort.
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