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Wider die Vernunft



Wider die Vernunft

von Beata Solanger


Leseprobe aus Kapitel 2

Copyright beim Verlag

Alexander Sixtus von Eisenhardt deckte seine Patientin liebevoll zu. Endlich war das Fieber gesunken. Der Herzschlag war schwach,aber stetig. Erleichtert legte er das Hörrohr in seine Ledertasche. Mit einem Seufzer strich er sich über seine brennenden Augen – den säuerlichen Geruch seiner Hände ignorierte er. Der Mediziner hatte die ganze Nacht über die hoch fiebernde Frau gewacht und ihr in regelmäßigen Abständen Laudanum verabreicht. Ohne Unterlass hatte er die Leinenbinden an ihren Füßen abgenommen, in kaltem Essigwasser gespült und wieder vorsichtig um die mageren Glieder geschlungen. Erschöpft blies er die Luft aus. Ein Geräusch an der Tür ließ ihn aufsehen. Die schwer gezeichnete Mutter der jungen Patientin blickte Alexander müde an. Mit einem leichten Nicken signalisierte er ihr, dass das Schlimmste überstanden war. Sein Gegenüber schloss die Augen. Im blassen Schein der Kerze war zu erkennen, dass sich die Lippen der alten Frau bewegten – ein Dankgebet an den Herrn, dass er das Leben der Tochter diese Nacht noch einmal verschont hatte.

Mit zitternden Händen hielt sie ihm eine Schale frisches Wasser hin. Der junge Arzt nahm die Waschmöglichkeit dankbar entgegen und griff nach einer Spezialseife, die er ständig bei sich trug. Aufmerksam wusch er sich die Hände und das Gesicht. Einmal und noch einmal – er sollte bei seinen nächsten Patienten kein Krankheitsherd sein. Alexander fischte nach einem ausgekochten Leinentuch, das in einem Seitenfach seiner Behandlungstasche steckte. Später wollte er es durch ein frisches Wäschestück ersetzen. Mit einem letzten Blick auf seine tief schlafende Patientin verließ der Arzt das Krankenlager. So leise wie möglich schloss er die schlecht eingehängte, fürchterlich knarrende Türe. 

Die ärmlich gekleidete Mutter hatte auf ihn gewartet und führte ihn einen muffigen Gang entlang, der in einem Raum endete, der als Vorraum, Küche, Ess- und Wohnzimmer der Familie diente. In der Eile am Vorabend war Alexander der Weg nicht aufgefallen. Frau Brugg hatte ihn regelrechtzum Krankenlager gezerrt – panisch vor Angst vor dem besorgniserregenden Zustand ihrer Tochter. Auch jetzt schenkte Alexander der Behausung so wenig Beachtung wie möglich – er konnte es nicht, denn die Armut dieser Menschen war bedrückend. Auf dem Tisch lagen zwei Münzen bereit. Diese Bezahlung würde nicht einmal die Kosten für das verabreichte Laudanum decken, doch Alexander wusste, dass diese Frau ohnehin alles gab, was sie hatte. Hätte die verzweifelte Mutter ihre Tochter in die Räume des
Soldatenspitals vor den Toren Wiens gebracht, wäre der Preis für die Behandlung zehn Kreuzer gewesen. Doch nur bei tatsächlich nachgewiesener Bedürftigkeit. Wohlhabendere Patienten wurden um einen halben Gulden erleichtert, wenn sie in den Genuss ärztlicher
Zuwendung kommen wollten.

Die Stimme von Eleonoras Mutter war nur ein Flüstern. „Bitte, lassen Sie mich zumindest eine Suppe für Sie richten.“ Unsicher legte sie ihre raue, von der täglichen schweren Arbeit gezeichnete Hand auf Alexanders Unterarm. Der Arzt neigte seinen Kopf. „Haben Sie Dank, Frau Brugg, das ist mir sehr willkommen.“ Er unterstrich sein Einverständnis mit einem Lächeln.

Die Mutter seiner Patientin nickte zufrieden und zeigte auf einen Holzschemel, der nicht den Eindruck machte, als würde er das Gewicht eines erwachsenen Mannes noch tragen können. Mit großem Respekt nahm Alexander Platz. Er war zwar schlank - das Gefühl des Hungers kannte auch er - aber recht groß.

„Für ihre Tochter wird eine kräftigende Brühe auch das Richtige sein.“ Damit hielt er seine Gastgeberin davon ab, zu großzügig in eine Holzschale einzuschenken.

Mit leicht zitternden Händen stellte die alte Frau die Suppe vor Alexander ab. Der Geruch verriet, dass kräftig die letzte Bezeichnung war, die das Gebräu verdient hätte, doch seinem leeren Magen sollte das dünne farbige Wasser vorerst reichen.

„Nein, vielen Dank.“ Mit einer schwachen Handbewegung lehnte der Mediziner das angebotene Brot ab und tat sich an der Suppe gütlich. Über den Schalenrand beobachtete er die leidgeprüfte Mutter. Zusammengesunken saß sie ihm gegenüber auf einem anderen Schemel und starrte meist ins Leere.

„Eleonora ist das letzte Kind, das mir geblieben ist.“, sie sprach so leise, dass Alexander sie fast nicht verstehen konnte.

Ohne aufzublicken, fuhr sie fort.„Die anderen Mädchen haben die Pocken erwischt und meine beiden Söhne sind in Freiberg gefallen.“

Die Traurigkeit in der Stimme der Frau schnürte Alexander die Kehle ab. Beklommen dachte er an die grauenvolle Schlacht, die dem Siebenjährigen Krieg endlich ein Ende gesetzt hatte. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper lief. Es konnte gut sein, dass einer dieser Söhne unter seinen Händen gestorben war, während er verzweifelt versucht hatte, den Soldaten zu retten. Doch die meisten waren schon halbtot gewesen, als sie von ihren – meistens auch schwer verwundeten - Kameraden ins Sanitätszelt geschleppt worden waren. Alexander war auch klar, dass Eleonoras Mutter nur die Kinder erwähnte, die das Säuglingsalter oder zumindest die ersten paar Jahre überlebt hatten. Er dachte an seine eigenen Geschwister. Seinen jüngerer Bruder Christian und seine beiden Schwestern, die Nesthäkchen der Familie – doch auch dazwischen hatte es drei Kinder gegeben, die das erste Lebensjahrzehnt nicht erreicht hatten.

Der junge Mann seufzte. „Bitte lassen Sie es mich sofort wissen, wenn sich der Zustand von Eleonora wieder verschlechtern sollte.“ Er erhob sich. „Ich werde unverzüglich kommen.“

Das Geld lag immer noch auf dem Tisch. Alexander strich seine Weste glatt, zog sich seine Jacke an und griff nach seiner schwarzen Ledertasche. Schon wollte er sich Richtung Ausgang umdrehen, als er von der alten Frau zurückgehalten wurde. Mit überraschend eisernem Griff hielt sie seine Hand fest. Er spürte das Metall auf seiner Handfläche.

„Es wäre mir lieber, wenn Sie etwas Nahrhaftes für ihre Tochter kauften.“ Alexander blickte die entschlossene Mutter sanft an.

„Ich verdanke Ihnen ihr Leben.“ Sie sah ihn eindringlich an. „Beschämen Sie mich nicht, indem Sie mir die Bezahlung verwehren.“

Der junge Mediziner zögerte. Langsam setzte er sich seinen Hut auf das schwarze Haar, das er nach der aktuellen Mode mit einer Samtschleife im Nacken zusammengefasst trug. Er beschloss später noch einmal vorbeizukommen – mit etwas Essbarem für seine magere junge Patientin. Alexander verabschiedete sich höflich und trat hinaus ins erste Sonnenlicht. 

Die frische Luft war eine Wohltat. Nach dem stickigen Mief in der feuchten Kellerwohnung war ihm der vertraute Gestank der Wiener Gassen hochwillkommen. Die Morgenluft war noch halbwegs erträglich, denn noch war es zu früh für die unvermeidlichen Seen, die sich im Laufe des Vormittags bilden würden, geformt aus den Inhalten von unzähligen Nachttöpfen, die rücksichtslos auf die Strasse geleert wurden. Offiziell war es schon seit mindestens vier Jahren verboten, Unrat und unflättiges Wasser auf den Gassen der Stadt zu entsorgen, doch den Wienern war es herzlich egal, was die feinen Herren des Stadtrats beschlossen hatten. Warum auch sollte man mit so lieb gewonnenen Traditionen brechen?

Alexander lüftete kurz seinen Dreispitz und hievte sich die Ledertasche quer über den Oberkörper. Der breite Lederriemen verteilte das Gewicht seiner Ausstattung auf ein erträgliches Maß. In Gedanken an seine unzähligen Glasfläschchen und deren Inhalt beschloss er, über den Hohen Marckt, den Licht Stög und den Haarmarckt nach Hause zu gehen, um seine Vorräte bei der Pharmacie „Zum König von Ungarn“, die nahe des Rothen Thurms ansässig war, aufzufüllen. Es würde noch eine Weile dauern, bis der ehrenwerte Apotheker Herr Spanfelder in Amt und Würden sein würde, und Alexander schlug zuerst den Weg zu einer Bäckerei ein, die für besonders gute Milchbrötchen bekannt war. Schon jetzt klangen ihm die Ohren von dem begeisterten Aufschrei, den Gabrielle und Marie zweifelsohne von sich geben würden. Seine Schwestern waren kaum halb so alt wie er und um ihr Wohlergehen sowie das seiner Mutter drehten sich seine meisten Sorgen.

Der Andrang war trotz der frühen Stunde beachtlich. Gelassen stellte sich der Arzt mit aristokratischer Herkunft in die lange Reihe der Dienstboten, die ausgeschickt worden waren, das Frühstück ihrer Herrschaften, die zweifellos noch in ihren Betten ruhten, aufzubessern. Die Geruchswolke von Schweiß und dem Gestank fauliger Zähne versuchte er, so gut es ging, zu ignorieren. Wahrscheinlich roch er zurzeit selber nicht besonders gut. Im Geiste stellte sich Alexander eine Liste der Mittel zusammen, die er bei der Pharmacie erwerben wollte. Die rundliche Bäckerin fertigte die Menge routiniert ab und ließ sich dennoch die letzen Neuigkeiten, die über den Ladentisch hinweg waberten, nicht entgehen.

Zu wichtig war es, zu wissen, welche hochwohlgeborene Dame in der vergangenen Nacht ihren Ruf aufs Spiel gesetzt hatte oder welcher Baron zu betrunken gewesen war, um in sein eigenes Bett zu finden. Beim Anblick des jungen Grafen Eisenhardt verstummte die betriebsame Frau augenblicklich und verbiss sich jeden weiteren Kommentar über die Laster der hohen Herrschaften. 

„Wie geht es Eleonora?“, fragte eine junge Frau in Dienstmädchenkleidung an Alexanders Seite. Der Ausdruck in ihren Augen ließ echte Besorgniserkennen.

„Sie hat die Nacht gut überstanden.“ Der junge Arzt wandte sich zu ihr. „Sind Sie mit meiner Patientin verwandt?“

„Nein, aber sie ist mir eine liebe Freundin.“ Ein schüchternes Lächeln stahl sich auf das Gesicht der Dienstmagd.

„Haben Sie eine Möglichkeit, sie nachher zu besuchen?“,erkundigte sich Alexander höflich.

Das Mädchen überlegte kurz und nickte dann zustimmend. Augenblicklich wandte er sich zur Bäckerin und ließ zwei Weißbrötchen für Eleonora einpacken. Er drückte sie der völlig verdutzten jungen Frau in die Hand.

„Bitte richten Sie Folgendes aus.“ Alexander sah ihr direkt in die Augen. „In Suppe aufgeweicht, soll Eleonora das hier über den Tag verteilt essen. Ich werde am Abend dann wieder nach ihr sehen.“

Eleonoras Freundin starrte ihr Gegenüber aus großen Augen an.

„Beweg dich, Mädchen!“, herrschte sie die Bäckerin an. „Geh’ schon und bedanke dich.“

„Vergelt’s Gott, gnädiger Herr.“ Das Mädchen beeilte sich, einen ehrerbietigen Knicks zu machen, und eilte aus der Backstube hinaus.

In dem stickigen kleinen Geschäft war es totenstill. Alexander spürte sämtliche Blicke auf sich. Für einen kurzen Moment kam er sich vor wie ein Aussätziger, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Erstaunt hob er die Augenbrauen und wandte sich zur Frau hinter dem Ladentisch.

Nach seinem Einkauf wollte Alexander  in den Licht Stög abbiegen, als ihn ein schroffer Befehl zusammenzucken ließ. Inbrünstig hoffte er, dass ihn niemand beobachtet hatte und
nun als Feigling betrachtete. Aus sicherer Entfernung betrachtete er den kleinen Trupp Soldaten seiner Allerhöchsten Majestäten, die den Karren begleiteten, der jeden Morgen durch die engen Gassen der Hauptstadt fuhr – den Leichenkarren, um die unzähligen
namenlosen Toten aufzulesen, die sich in den Wiener Gassen Nacht für Nacht gesammelt hatten.

Vielleicht war jemand unglücklich gestürzt, vielleicht war auch jemand brutal überfallen worden, doch die meisten waren von Hunger und Krankheit geschwächt elend zu Grunde gegangen – und sie waren nicht etwa auf der Straße gestorben. Die in Lumpen verhüllten Leichname waren von ihren eigenen Familien in den Dreck gezerrt worden – von Verwandten, die sich das Begräbnis nicht leisten konnten und ihren Toten auf diese Weise einen Platz im Massengrab der Namenlosen sicherten. Hätte seine Patientin Eleonora nicht überlebt, hätte ihr ausgemergelter Körper wahrscheinlich dasselbe Schicksal gehabt.

Der junge Arzt verfolgte die groteske Szene. Ein Soldat half einem der Bestatter einen Körper auf den Karren zu hieven. Ohne Respekt und bar jeder Pietät warfen sie den Toten wie einen Sack Kartoffeln auf die anderen Leiber.

In Freiberg war es nicht anders gewesen. Während er blutverschmiert und am Rande der eigenen Leistungsfähigkeit tagelang Verwundete versorgt hatte, waren die Leichen derer, die das Massaker nicht überlebt hatten, in ähnlicher Art und Weise entsorgt worden. Eine sinnlose Verschwendung!Der junge Arzt hasste das unnötige Blutvergießen, das zu nichts führte als nur eine Unzahl von Witwen und Krüppeln hervorzubringen, die zu einem elenden Dasein verdammt waren. Noch jetzt dröhnten ihm die Schreie derjenigen Männer in den Ohren, denen er ein Bein oder einen Arm amputieren musste – meistens ohne Betäubung, weil dafür die Zeit oder die Mittel fehlten. Nicht nur einmal war Alexander drauf und dran gewesen, sich zu übergeben.

Der junge Mann atmete einen Moment tief durch. Der Karren und die Soldaten waren fort. Im Stillen sandte er ein Stoßgebet zum Himmel mit der Bitte, dass es nach diesem Krieg nun eine längere Friedenszeit geben würde. Für eine Weile würden ihm die vom Württembergischen Regimentsschreiber auferlegten Dienste an den Kriegsinvaliden im Nepomucenispital und in der Siechenanstalt Bäckenhäusel völlig ausreichen. Unwillig vergrub Alexander die Hände in den tiefen Taschen seiner Jacke. Ein leichter Luftzug verriet ihm, dass er wieder vergessen hatte, seine Mutter darum zu bitten, das Loch zu flicken.

Der Arzt sah an sich herab. Der erste Eindruck konnte den mühsam gewahrten Anschein wahrscheinlich bewahren, aber Alexander wusste es besser. Sein einziges Paar Schuhe brauchte dringend neue Absätze, seine Strümpfe verbrachten mehr Zeit auf dem heimischen Stopfschwammerl als auf seinen Füssen, und der Stoff seiner Jacke war an vielen Stellen fast durchgewetzt. In Momenten wie diesen konnte er seinen Groll auf den Lauf des Schicksals kaum unterdrücken und verfluchte alles, was mit Militär und Staatsdienst zu tun hatte – die Einrichtungen, die seine einst so wohlhabende Familie in die Armut gestürzt und ihn durch das blanke Grauen geschickt hatten.

Eine leichte Berührung am Ärmelaufschlag ließ ihn aufsehen.

„Sind Sie der Arzt Alexander?“, die Stimme eines kleinen Mädchens piepste.
Der junge Mann nickte – tief beschämt, denn das schmutzige Geschöpf vor ihm hatte weder Strümpfe noch Schuhe an den Füssen, dafür eine Menge offener Ekzeme.
„Können Sie meiner Mutter helfen?“ In den Augen des Kindes waren Unsicherheit, Angst und Hunger zu sehen.
„Ja. Wo ist denn dein Zuhause?“, fragte er gutmütig und versuchte seinem Gesicht einen milderen Ausdruck zu geben – es gelang ihm auch, denn aller Groll war augenblicklich verflogen.
Alexander streckte dem Mädchen seine große Hand aus. Das verschreckte Kind zögerte einen Moment,doch legte es dann vertrauensselig sein schmutziges Händchen in seine Handfläche. Der junge Arzt drückte es sanft.
„Wie heißt du?“, fragte er höflich und deutete, dass die Kleine die Führung übernehmen sollte.
„Elisabeth Kramer.“, antwortete sie artig. „Doch alle nennen mich Lisi.“
„Deine Familie und deine Freunde?“
„Ja.“
„Darf ich dich auch so nennen?“ Alexander hob wichtig seine Augenbrauen.
Augenblicklich entblößte Elisabeth eine Reihe brauner kleiner Zähne mit etlichen Lücken und strahlte ihn an. Der Arzt seufzte. Das Kind war noch keine acht Jahre alt.