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In seinem
Kopf drehte sich alles. Keines der trüben Bilder, die vor seinen
Augen tanzten, konnte er so richtig fassen. Ein dumpfer Schmerz
begleitete den wilden Reigen und wuchs sich zu einem fast
unerträglichen Hämmern aus, das jede Windung seines Gehirns
zusammenzucken ließ.
Endlich formte sich einer der Eindrücke zu etwas Kon-
kreterem, etwas Fassbarem. Aus dichten Nebelschwaden starrte es ihn an.
Ein Auge, ein hässliches, blutunterlaufenes Auge, das
unablässig starrte. Joseph versuchte den Kopf zu heben, wurde aber
durch einen donnergleich einsetzenden, rasend stechenden Schmerz daran
gehindert. Und da war auch noch etwas anderes. Irgendetwas saß
oder lag auf seiner Brust und schnürte ihm die Luft zum Atmen ab.
Es lastete auf ihm wie eine Decke aus Blei. Er versuchte seine
Gliedmaßen zu rühren – Gott im Himmel! Er war
unfähig auch nur die geringste Bewegung auszuführen.
Gelähmt am ganzen Körper wollte ihm nichts gelingen.
Da war es wieder! Dieses hässliche, starr auf ihn gerichtete Auge. Trug es etwa die Schuld an seiner Pein?
Plötzlich kam Bewegung in seine Beine. Doch nicht aus eigener
Kraft. Das Auge machte sich an seinen Beinkleidern zu schaffen. Es zog
und ruckelte zuerst an den Bändern, die den Bund unter der
Kniekehle zusammenhielten und zog dann die fein gearbeiteten
Strümpfe unsanft hinunter. In Josephs Kopf drehte sich weiter
alles.
Doch langsam wurde das Bild deutlicher. Zu dem Auge gab es ein zweites,
auch hässlich und blutunterlaufen, aber mehr zusammen gekniffen
und nicht so starrend. Wirre, fettige Haarsträhnen in einem
undefinierbaren Graubraun wehten wie ein Vorhang vor diesem seltsamen
Augenpaar hin und her. Nun nahmen auch eine dicke, rot geäderte
Nase und ein froschartig breiter Mund Formen an.
„Seltsam“, dachte Joseph träge. „So sieht nur
jemand aus, der keinen einzigen Zahn mehr sein eigen nennt ...“
Weiter kam Joseph mit seinen Überlegungen nicht. Ziemlich unsanft
machte sich dieser Jemand an seinem Hosenbund zu schaffen und krallte
sich dann an den Seitennähten fest, um auch dieses
Kleidungsstück an sich zu reissen. Dieser Übergriff war zu
viel für den gepeinigten jungen Mann. Der Druck in Josephs Brust
wuchs zu einem mächtigen Donnergrollen an und schwappte wie eine
Flutwelle durch seinen Oberkörper.
Ohne auf den wahnsinnig machenden Schmerz in seinem Kopf zu achten,
bäumte sich der junge Baron Joseph August Lafarche auf und
spie seinen Mageninhalt auf den Boden. Nur vage nahm er wahr, wohin
sich die guten Gaben ergossen, denn er hatte keinen Schimmer, worauf er
gelegen war. Diese Unkenntnis kostete ihn fast das Gleichgewicht auf
dem schmalen und harten Steintisch, während er sich noch einmal
übergab.
Mit einem Aufschrei, der ein Gemisch aus Schreck und panischer Angst
erkennen ließ, sprang der Saaldiener Anton Schickl zur Seite und
blieb, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, stehen. Mit vor
Entsetzten geweiteten Augen glotzte er den eben von den Toten
Auferstandenen an, dessen braune Haare wirr vom Kopf standen.
Erfüllt von Grauen musste Schickl sehen, dass der Unheimliche noch
nicht fertig war mit seinem Werk. Aus seinem weit aufgerissenen Schlund
spie er weiter diese Säfte der Hölle. Eine bestialisch
riechende Mischung aus Branntwein und dem, was von einem Gulasch noch
übrig war, verteilte sich im Raum. Der Halbtote keuchte und
schäumte, krallte sich mit wild rollenden Augen am Tisch fest und
bot ein Bild des Schreckens und der Verdammnis.
Anton Schickl erwachte aus seiner Erstarrung. Mit zitternden
Händen bekreuzigte er sich mehrmals und fiel begleitet von einem
kläglichen Wimmern auf die Knie.
„Jessas Maria!“ Dem Saaldiener liefen die Tränen
über die faltigen Wangen. „Es ist soweit. Der Herr der
Finsternis ist gekommen, um mich zu holen. Hätt‘ ich doch
nur nix angstellt in meinem patscherten Leben.“ Der alte Mann
schluchzte auf. „Hätt‘ ich bloß auf die Mutter
gehört, dann käm‘ ich jetzt in Himmel.“
Als Antwort keuchte der Höllenfürst noch einmal und gab ein
letztes Mal sein Innerstes preis. Dann .... herrschte Stille.
Anton, der dem Moment entgegenzitterte, dass sich sein Bote des
Schicksals erhob und ihn am Kragen packte, um ihn mit sich in sein
dunkles Reich zu ziehen, wagte es kaum zu atmen. Die unheimliche Stille
drückte auf ihn wie ein Mühlstein. Gerade als er sich zu
fragen begann, wie lange ER ihn, den armen und verwünschten Anton
Schickl, noch quälen wolle, begann ER sich zu rühren.
„Kruzitürken! Mir donnert der Schädel.“ Mit einem
Aufstöhnen rieb sich Joseph über den Kopf und barg sein
Gesicht in den schmutzigen Händen. Nach zwei tiefen Atemzügen
begann sein Verstand, der von einer zähen Wolke umklammert war,
vorsichtig zu arbeiten.
Der junge Baron war nach seinen nächtlichen Zechtouren schon an
vielen Orten aufgewacht. Meistens war es sein Bett zu Hause gewesen, im
Palais seiner Eltern in der Schenkenstrasse. In besseren Nächten
war es vielleicht sogar das Bett einer Dame gewesen, wo er an einem
üppigen Busen aufwachen durfte. Doch meistens hatte er für
solcherlei Eroberungen zu tief ins Glas geschaut. Ging gar nichts mehr,
hatte der Wirt vom Esterhazy-Keller schon mehrmals ein Auge
zugedrückt und den Joseph auf der harten Bank liegengelassen, wo
der Dauergast lange nach der Sperrstunde in sich zusammengesunken war.
Normalerweise liebte Joseph diesen Ort. Bei den Gedanken an den Geruch
von Branntwein gemischt mit der Ausdünstung Jahrzehnte vor sich
hin schimmelnder Ziegel – ein Geruch, der ihm sonst ein tiefes
Gefühl von Zufriedenheit gab – überkam ihn jedoch eine
neuerliche Attacke von peinigender Übelkeit. Das aufsteigende
Würgegefühl rief den jungen Lafarche zurück in das Hier
und Jetzt. Wo war er?
Diese Umgebung war ihm gänzlich unbekannt. Langsam blickte er sich
um. Die Kammer war furchteinflössend. Weiß getünchte,
Kälte und Ungemütlichkeit ausstrahlende Wände, wurden
ohne Schmuck von den hässlichsten Steingutplatten, die Joseph je
gesehen hatte, verschluckt. Irgendetwas stimmte hier nicht oder lag es
an seiner stark getrübten Wahrnehmungsfähigkeit?
„Ich bin wirklich übel dran“, murmelte er und starrte
den Boden angestrengt an. „Oder ist hier alles schief?“
Die unappetitliche Brühe aus seinem Magen rann langsam, aber
unaufhörlich unter seinem harten Lager durch. Fasziniert folgte
Joseph der Spur, die sich auf ein Loch im abfallenden Boden hinbewegte.
Unerwartet traf ihn ein Schwall eiskaltes Wasser. Vor Schreck wäre
Joseph fast vom hüfthohen Tisch gestürzt, auf dem er noch
immer wie eine aufgeklappte Holzpuppe saß.
„Himmel, Arsch und Zwirn!“ Der junge Baron vergaß,
dass er so etwas, wie eine gute Kinderstube genossen hatte. Empört
wollte er seinen Unmut weiter kund tun, als ihn noch ein Wasserschwall
traf.
Enttäuscht musste Anton Schickl seine letzte Hoffnung fahren
lassen. Der Teufel hatte sich nicht in Schall und Rauch aufgelöst.
Auch nicht mit dem zweiten Kübel Wasser. Nur vage drängte
sich dem einfach gestrickten Mann der Gedanke auf, dass für einen
Sieg vielleicht gesegnetes Wasser vonnöten gewesen wäre.
Felsenfest überzeugt von seinem Tun und Handeln, drängten
sich dem Sezierdiener nun drei Probleme auf:
Wurde er den Höllenbastard nur mit Hilfe eines Priesters los?
Wann hatte er Gelegenheit die Kübel wieder frisch zu füllen? Der nächste öffentliche Brunnen war weit.
Wo bekam er eine frische Leich‘ her?
„Wenn‘s des noamal machen, hau‘ ich Eana eine rein,
dass Eana hören und sehen vergeht!“ Die rüde Drohung in
reinstem Dialekt holte den Schickl aus seinen Reflexionen.
„Wer san‘S eigentlich?“ Als echter Wiener fand der
Saaldiener nichts Falsches an seiner, mit nachdrücklichem Vorwurf
in der Stimme, ausgespuckten Frage.
Mehrere Augenblicke starrte Joseph seinen eigenartigen, kaum
verständlich nuschelnden Peiniger an. Dann sah er sich träge
um, so als würde die Antwort auf die Frage nach seiner
Identität auf den Wänden stehen. Eine schier unglaubliche
Müdigkeit ergriff von ihm Besitz und seine Zunge, die vorher
Flüche und Drohungen problemlos hervorgebracht hatte, pickte wie
eine pappige Mehlspeise an seinem Gaumen.
Das Hemd und die Hose klebten tropfnass an ihm. Mit leicht zitternden
Händen griff er nach dem überlangen Zipfel des
maßgeschneiderten Leinens und wischte sich damit übers
Gesicht. Anschließend streckte er die pelzige,
übelschmeckende Zunge raus und ließ den Stoff seine
erfrischende Wirkung tun. Joseph konnte sich nicht daran erinnern, wann
er sich das letzte Mal vor sich selbst geekelt hatte.
Sezierdiener Anton Schickl wusste sich noch immer keinen Reim auf die
Vorkommnisse an diesem Morgen zu machen und beschloss, den Untoten
weiter anzustarren. Er war felsenfest überzeugt, dass man ihm
keinen Vorwurf machen konnte. Die vier Prüfungen zur Feststellung
des Todes hatte er vom Professor höchstpersönlich gelernt und
Schickl machte seine Arbeit ordentlich!
Ohr auf die Brust – schlug das Herz noch?
Spiegel zur Nase – ließ der Atem das Glas anlaufen? Finger an den Puls – gab es das geringste Pochen?
Heftiger Nadelstich ins Bein – darauf eine Reaktion?
Anton Schickls Kunden waren tot – mausetot und das war wissenschaftlich erwiesen.
Angestrengt dachte der verzweifelte Saaldiener nach, ob er bei dieser
Leich‘ eine Überprüfung vergessen hatte. An seinen
dürren Fingern zählte er alle vier Aufgaben noch einmal ab.
NEIN! Dieser Mann sollte tot sein und ausgestreckt auf dem Tisch liegen.
Mit einem fürchterlichen Aufschrei machte Anton Schickl einen Satz
nach hinten und stieß an einen kleinen Handwagen, auf dem alle
Sezierinstrumentarien fein säuberlich aufgereiht lagen. Einige der
anatomischen Werkzeuge schepperten auf die Steingutplatten. Am ganzen
Körper zitternd wollte Schickl gerade die Flucht ergreifen, wurde
aber von einem gedonnerten „Was ist hier los?“ daran
gehindert.
In die korrekt sitzende schwarze Kleidung des Wissenschaftlers
gehüllt, stand im Türrahmen der Universitätsprofessor
für Anatomie Matthäus Collin und brüllte seine Frage ein
zweites Mal in den Raum. Der arme Joseph hielt sich den Kopf und jaulte
auf wie ein getretener Hund.
„Gnädiger Herr! Gnädiger Herr!“ Anton Schickls
Stimme überschlug sich, während er wie ein
Aufziehmännchen auf und ab sprang. „Wir werden vom
Unaussprechlichen heimgesucht!“
Erstaunt über so viel Unfug in seiner direkten Nähe hob der
Mediziner die Augenbrauen. Er beschloss dem Problem selbst auf den
Grund zu gehen.
„Schickl!“ Er wartete geduldig, bis seine ruhige und sonore
Stimme zum völlig aufgelösten Saaldiener durchgedrungen war.
„Hat Er gerade etwas zu tun?“
„Äh, ja, gnädiger Herr!“ Anton Schickl sah sich
gehetzt um. Sein Blick fiel auf die leeren Kübel am Boden.
„Ja ... wunderbar.“ Er griff in Windeseile zu den
Gefäßen. „Wasser holen ...“, der alte Mann
stotterte vor Aufregung. „Ich, ich, ich geh‘ schon.“
Damit wandte er sich eilig dem Ausgang zu, mit einem Stoßgebet zu
Gott auf den Lippen, dass er dem Satan entkommen war. Sollte der
Professor mit ihm fertig werden.
„Wo bin ich?“ Der Ton in Josephs Stimme verriet die
Hoffnung, dass er es jetzt mit einem vernünftig denkenden
Gegenüber zu tun hatte.
Collin lächelte väterlich und zeigte auf die geöffnete
Doppeltüre, die den Blick auf einen Saal mit treppenförmig
angeordneten Sitzreihen freigab.
„In meinen Räumen für den Anatomischen Unterricht der Alma Mater Rudolphina im ehemaligen Vize-
Domamt. Matthäus Collin, halten zu Gnaden.“
Der Universitätsprofessor hob belustigt die Augenbrauen.
„Falls ich die Gerüche hier richtig deute, haben wir es mit
einem veritablen Alkoholtrauma zu tun?“ Die Frage war nur
rhetorischer Natur, denn selbst zwei Kübel Wasser hatten nicht
gereicht, um den stechenden Branntweingeruch einzudämmen.
Matthäus Collin sah sich kurz um. Auf einem fahrbaren Holztisch
entdeckte er, was er gesucht hatte. Unter dem weißen Laken waren
die Umrisse eines Menschen erkennbar. „Ah ja, da ist der andere
Kandidat.“ Mit einem Schwung zog der angesehene Lehrer der
Medizin das weiße Tuch runter und entblößte den
völlig entkleideten Leichnam eines jungen Mannes. Joseph
erschauderte und er zog es vor, an die Wand zu starren, während
sich Collin an dem Toten zu schaffen machte.
Der junge Baron fuhr zusammen, als der Arzt eine Art Spicknadel vom
Instrumententisch nahm und sie dem Unglücklichen unsanft in den
Oberschenkel rammte. Unwillkürlich zuckte Josephs Hand zu einer
Stelle an seinem Bein und er bekam eine Ahnung davon, warum es dort so
besonders schmerzte.
Ein leises Wimmern drohte ihm zu entkommen, während er über
die Einstichstelle rieb. Collin hatte sein Hölleninstrument
weggelegt und setzte seine Untersuchung unbeirrt fort. Für Joseph
kam der Moment der Wahrheit, als der Professor den Kopf der Leiche
anhob und leicht drehte. Mit einem Schlag erkannte der junge Baron das
Gesicht.
„Das ist ja der Franzl!“, rief er voll Entsetzten aus und
hechtete vom Tisch. Rumms! Zum Schock über den starren Körper
seines besten Freundes gesellte sich das Ungemach eines ungebremsten
Sturzes auf die harten Steingutplatten. Über das, worauf Joseph
ausgerutscht war, mochte er gar nicht nachdenken. Entschlossen rappelte
er sich hoch und hastete so wie er war, mit nackten Füssen und
tropfnass zu dem Tisch, wo sein Freund lag.
„Franzl.“ Mit einem Kloß in der Kehle wandte er sich
an den erfahrenen Arzt und Universitätsgelehrten. „Bitte
sagen Sie mir, dass er auch wieder aufwacht.“ Liebevoll
tätschelte Joseph August Lafarche seinem Studienkollegen, bestem
Freund und Saufkumpan die Wange.
Matthäus Collin schüttelte traurig den Kopf. Vorsichtig
drehte er das Haupt des Toten und zeigte auf eine Wunde, die nicht nur
den Blick auf den Schädelknochen freigab, sondern auch auf die
gräulich weiße Masse, die es eigentlich zu schützen
galt.
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