editio historiae        Zeit zum Träumen / Zeit für Spannung / Zeit für ein gutes Buch
Headereditiohistoriae.jpg



Kaffeekomplott



Das Kaffeekomplott

von Beata Solanger


Leseprobe aus Kapitel 2

Copyright beim Verlag

In seinem Kopf drehte sich alles. Keines der trüben Bilder, die vor seinen Augen tanzten, konnte er so richtig fassen. Ein dumpfer Schmerz begleitete den wilden Reigen und wuchs sich zu einem fast unerträglichen Hämmern aus, das jede Windung seines Gehirns zusammenzucken ließ.
Endlich formte sich einer der Eindrücke zu etwas Kon-
kreterem, etwas Fassbarem. Aus dichten Nebelschwaden starrte es ihn an. Ein Auge, ein hässliches, blutunterlaufenes Auge, das unablässig starrte. Joseph versuchte den Kopf zu heben, wurde aber durch einen donnergleich einsetzenden, rasend stechenden Schmerz daran gehindert. Und da war auch noch etwas anderes. Irgendetwas saß oder lag auf seiner Brust und schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Es lastete auf ihm wie eine Decke aus Blei. Er versuchte seine Gliedmaßen zu rühren – Gott im Himmel! Er war unfähig auch nur die geringste Bewegung auszuführen. Gelähmt am ganzen Körper wollte ihm nichts gelingen.
Da war es wieder! Dieses hässliche, starr auf ihn gerichtete Auge. Trug es etwa die Schuld an seiner Pein?
Plötzlich kam Bewegung in seine Beine. Doch nicht aus eigener Kraft. Das Auge machte sich an seinen Beinkleidern zu schaffen. Es zog und ruckelte zuerst an den Bändern, die den Bund unter der Kniekehle zusammenhielten und zog dann die fein gearbeiteten Strümpfe unsanft hinunter. In Josephs Kopf drehte sich weiter alles.
Doch langsam wurde das Bild deutlicher. Zu dem Auge gab es ein zweites, auch hässlich und blutunterlaufen, aber mehr zusammen gekniffen und nicht so starrend. Wirre, fettige Haarsträhnen in einem undefinierbaren Graubraun wehten wie ein Vorhang vor diesem seltsamen Augenpaar hin und her. Nun nahmen auch eine dicke, rot geäderte Nase und ein froschartig breiter Mund Formen an.

„Seltsam“, dachte Joseph träge. „So sieht nur jemand aus, der keinen einzigen Zahn mehr sein eigen nennt ...“
Weiter kam Joseph mit seinen Überlegungen nicht. Ziemlich unsanft machte sich dieser Jemand an seinem Hosenbund zu schaffen und krallte sich dann an den Seitennähten fest, um auch dieses Kleidungsstück an sich zu reissen. Dieser Übergriff war zu viel für den gepeinigten jungen Mann. Der Druck in Josephs Brust wuchs zu einem mächtigen Donnergrollen an und schwappte wie eine Flutwelle durch seinen Oberkörper.
Ohne auf den wahnsinnig machenden Schmerz in seinem Kopf zu achten, bäumte sich der junge Baron Joseph August Lafarche auf und  spie seinen Mageninhalt auf den Boden. Nur vage nahm er wahr, wohin sich die guten Gaben ergossen, denn er hatte keinen Schimmer, worauf er gelegen war. Diese Unkenntnis kostete ihn fast das Gleichgewicht auf dem schmalen und harten Steintisch, während er sich noch einmal übergab.

Mit einem Aufschrei, der ein Gemisch aus Schreck und panischer Angst erkennen ließ, sprang der Saaldiener Anton Schickl zur Seite und blieb, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, stehen. Mit vor Entsetzten geweiteten Augen glotzte er den eben von den Toten Auferstandenen an, dessen braune Haare wirr vom Kopf standen. Erfüllt von Grauen musste Schickl sehen, dass der Unheimliche noch nicht fertig war mit seinem Werk. Aus seinem weit aufgerissenen Schlund spie er weiter diese Säfte der Hölle. Eine bestialisch riechende Mischung aus Branntwein und dem, was von einem Gulasch noch übrig war, verteilte sich im Raum. Der Halbtote keuchte und schäumte, krallte sich mit wild rollenden Augen am Tisch fest und bot ein Bild des Schreckens und der Verdammnis.
Anton Schickl erwachte aus seiner Erstarrung. Mit zitternden Händen bekreuzigte er sich mehrmals und fiel begleitet von einem kläglichen Wimmern auf die Knie.
„Jessas Maria!“ Dem Saaldiener liefen die Tränen über die faltigen Wangen. „Es ist soweit. Der Herr der Finsternis ist gekommen, um mich zu holen. Hätt‘ ich doch nur nix angstellt in meinem patscherten Leben.“ Der alte Mann schluchzte auf. „Hätt‘ ich bloß auf die Mutter gehört, dann käm‘ ich jetzt in Himmel.“
Als Antwort keuchte der Höllenfürst noch einmal und gab ein letztes Mal sein Innerstes preis. Dann .... herrschte Stille.
Anton, der dem Moment entgegenzitterte, dass sich sein Bote des Schicksals erhob und ihn am Kragen packte, um ihn mit sich in sein dunkles Reich zu ziehen, wagte es kaum zu atmen. Die unheimliche Stille drückte auf ihn wie ein Mühlstein. Gerade als er sich zu fragen begann, wie lange ER ihn, den armen und verwünschten Anton Schickl, noch quälen wolle, begann ER sich zu rühren.
„Kruzitürken! Mir donnert der Schädel.“ Mit einem Aufstöhnen rieb sich Joseph über den Kopf und barg sein Gesicht in den schmutzigen Händen. Nach zwei tiefen Atemzügen begann sein Verstand, der von einer zähen Wolke umklammert war, vorsichtig zu arbeiten.
Der junge Baron war nach seinen nächtlichen Zechtouren schon an vielen Orten aufgewacht. Meistens war es sein Bett zu Hause gewesen, im Palais seiner Eltern in der Schenkenstrasse. In besseren Nächten war es vielleicht sogar das Bett einer Dame gewesen, wo er an einem üppigen Busen aufwachen durfte. Doch meistens hatte er für solcherlei Eroberungen zu tief ins Glas geschaut. Ging gar nichts mehr, hatte der Wirt vom Esterhazy-Keller schon mehrmals ein Auge zugedrückt und den Joseph auf der harten Bank liegengelassen, wo der Dauergast lange nach der Sperrstunde in sich zusammengesunken war.
Normalerweise liebte Joseph diesen Ort. Bei den Gedanken an den Geruch von Branntwein gemischt mit der Ausdünstung Jahrzehnte vor sich hin schimmelnder Ziegel – ein Geruch, der ihm sonst ein tiefes Gefühl von Zufriedenheit gab – überkam ihn jedoch eine neuerliche Attacke von peinigender Übelkeit. Das aufsteigende Würgegefühl rief den jungen Lafarche zurück in das Hier und Jetzt. Wo war er?
Diese Umgebung war ihm gänzlich unbekannt. Langsam blickte er sich um. Die Kammer war furchteinflössend. Weiß getünchte, Kälte und Ungemütlichkeit ausstrahlende Wände, wurden ohne Schmuck von den hässlichsten Steingutplatten, die Joseph je gesehen hatte, verschluckt. Irgendetwas stimmte hier nicht oder lag es an seiner stark getrübten Wahrnehmungsfähigkeit?
„Ich bin wirklich übel dran“, murmelte er und starrte den Boden angestrengt an. „Oder ist hier alles schief?“
Die unappetitliche Brühe aus seinem Magen rann langsam, aber unaufhörlich unter seinem harten Lager durch. Fasziniert folgte Joseph der Spur, die sich auf ein Loch im abfallenden Boden hinbewegte.
Unerwartet traf ihn ein Schwall eiskaltes Wasser. Vor Schreck wäre Joseph fast vom hüfthohen Tisch gestürzt, auf dem er noch immer wie eine aufgeklappte Holzpuppe saß.
„Himmel, Arsch und Zwirn!“ Der junge Baron vergaß, dass er so etwas, wie eine gute Kinderstube genossen hatte. Empört wollte er seinen Unmut weiter kund tun, als ihn noch ein Wasserschwall traf.
Enttäuscht musste Anton Schickl seine letzte Hoffnung fahren lassen. Der Teufel hatte sich nicht in Schall und Rauch aufgelöst. Auch nicht mit dem zweiten Kübel Wasser. Nur vage drängte sich dem einfach gestrickten Mann der Gedanke auf, dass für einen Sieg vielleicht gesegnetes Wasser vonnöten gewesen wäre. Felsenfest überzeugt von seinem Tun und Handeln, drängten sich dem Sezierdiener nun drei Probleme auf:
Wurde er den Höllenbastard nur mit Hilfe eines Priesters los?
Wann hatte er Gelegenheit die Kübel wieder frisch zu füllen? Der nächste öffentliche Brunnen war weit.
Wo bekam er eine frische Leich‘ her?
„Wenn‘s des noamal machen, hau‘ ich Eana eine rein, dass Eana hören und sehen vergeht!“ Die rüde Drohung in reinstem Dialekt holte den Schickl aus seinen Reflexionen.
„Wer san‘S eigentlich?“ Als echter Wiener fand der Saaldiener nichts Falsches an seiner, mit nachdrücklichem Vorwurf in der Stimme, ausgespuckten Frage.
Mehrere Augenblicke starrte Joseph seinen eigenartigen, kaum verständlich nuschelnden Peiniger an. Dann sah er sich träge um, so als würde die Antwort auf die Frage nach seiner Identität auf den Wänden stehen. Eine schier unglaubliche Müdigkeit ergriff von ihm Besitz und seine Zunge, die vorher Flüche und Drohungen problemlos hervorgebracht hatte, pickte wie eine pappige Mehlspeise an seinem Gaumen.

Das Hemd und die Hose klebten tropfnass an ihm. Mit leicht zitternden Händen griff er nach dem überlangen Zipfel des maßgeschneiderten Leinens und wischte sich damit übers Gesicht. Anschließend streckte er die pelzige, übelschmeckende Zunge raus und ließ den Stoff seine erfrischende Wirkung tun. Joseph konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal vor sich selbst geekelt hatte.
Sezierdiener Anton Schickl wusste sich noch immer keinen Reim auf die Vorkommnisse an diesem Morgen zu machen und beschloss, den Untoten weiter anzustarren. Er war felsenfest überzeugt, dass man ihm keinen Vorwurf machen konnte. Die vier Prüfungen zur Feststellung des Todes hatte er vom Professor höchstpersönlich gelernt und Schickl machte seine Arbeit ordentlich!
Ohr auf die Brust – schlug das Herz noch?
Spiegel zur Nase – ließ der Atem das Glas anlaufen? Finger an den Puls – gab es das geringste Pochen?
Heftiger Nadelstich ins Bein –  darauf eine Reaktion?
Anton Schickls Kunden waren tot – mausetot und das war wissenschaftlich erwiesen.
Angestrengt dachte der verzweifelte Saaldiener nach, ob er bei dieser Leich‘ eine Überprüfung vergessen hatte. An seinen dürren Fingern zählte er alle vier Aufgaben noch einmal ab. NEIN! Dieser Mann sollte tot sein und ausgestreckt auf dem Tisch liegen.
Mit einem fürchterlichen Aufschrei machte Anton Schickl einen Satz nach hinten und stieß an einen kleinen Handwagen, auf dem alle Sezierinstrumentarien fein säuberlich aufgereiht lagen. Einige der anatomischen Werkzeuge schepperten auf die Steingutplatten. Am ganzen Körper zitternd wollte Schickl gerade die Flucht ergreifen, wurde aber von einem gedonnerten „Was ist hier los?“ daran gehindert.
In die korrekt sitzende schwarze Kleidung des Wissenschaftlers gehüllt, stand im Türrahmen der Universitätsprofessor für Anatomie Matthäus Collin und brüllte seine Frage ein zweites Mal in den Raum. Der arme Joseph hielt sich den Kopf und jaulte auf wie ein getretener Hund.

„Gnädiger Herr! Gnädiger Herr!“ Anton Schickls Stimme überschlug sich, während er wie ein Aufziehmännchen auf und ab sprang. „Wir werden vom Unaussprechlichen heimgesucht!“
Erstaunt über so viel Unfug in seiner direkten Nähe hob der Mediziner die Augenbrauen. Er beschloss dem Problem selbst auf den Grund zu gehen.
„Schickl!“ Er wartete geduldig, bis seine ruhige und sonore Stimme zum völlig aufgelösten Saaldiener durchgedrungen war. „Hat Er gerade etwas zu tun?“
„Äh, ja, gnädiger Herr!“ Anton Schickl sah sich gehetzt um. Sein Blick fiel auf die leeren Kübel am Boden. „Ja ... wunderbar.“ Er griff in Windeseile zu den Gefäßen. „Wasser holen ...“, der alte Mann stotterte vor Aufregung. „Ich, ich, ich geh‘ schon.“ Damit wandte er sich eilig dem Ausgang zu, mit einem Stoßgebet zu Gott auf den Lippen, dass er dem Satan entkommen war. Sollte der Professor mit ihm fertig werden.
„Wo bin ich?“ Der Ton in Josephs Stimme verriet die Hoffnung, dass er es jetzt mit einem vernünftig denkenden Gegenüber zu tun hatte.
Collin lächelte väterlich und zeigte auf die geöffnete Doppeltüre, die den Blick auf einen Saal mit treppenförmig angeordneten Sitzreihen freigab.
„In meinen Räumen für den Anatomischen Unterricht der Alma Mater Rudolphina im ehemaligen Vize-
Domamt. Matthäus Collin, halten zu Gnaden.“
Der Universitätsprofessor hob belustigt die Augenbrauen. „Falls ich die Gerüche hier richtig deute, haben wir es mit einem veritablen Alkoholtrauma zu tun?“ Die Frage war nur rhetorischer Natur, denn selbst zwei Kübel Wasser hatten nicht gereicht, um den stechenden Branntweingeruch einzudämmen.

Matthäus Collin sah sich kurz um. Auf einem fahrbaren Holztisch entdeckte er, was er gesucht hatte. Unter dem weißen Laken waren die Umrisse eines Menschen erkennbar. „Ah ja, da ist der andere Kandidat.“ Mit einem Schwung zog der angesehene Lehrer der Medizin das weiße Tuch runter und entblößte den völlig entkleideten Leichnam eines jungen Mannes. Joseph erschauderte und er zog es vor, an die Wand zu starren, während sich Collin an dem Toten zu schaffen machte.
Der junge Baron fuhr zusammen, als der Arzt eine Art Spicknadel vom Instrumententisch nahm und sie dem Unglücklichen unsanft in den Oberschenkel rammte. Unwillkürlich zuckte Josephs Hand zu einer Stelle an seinem Bein und er bekam eine Ahnung davon, warum es dort so besonders schmerzte.
Ein leises Wimmern drohte ihm zu entkommen, während er über die Einstichstelle rieb. Collin hatte sein Hölleninstrument weggelegt und setzte seine Untersuchung unbeirrt fort. Für Joseph kam der Moment der Wahrheit, als der Professor den Kopf der Leiche anhob und leicht drehte. Mit einem Schlag erkannte der junge Baron das Gesicht.
„Das ist ja der Franzl!“, rief er voll Entsetzten aus und hechtete vom Tisch. Rumms! Zum Schock über den starren Körper seines besten Freundes gesellte sich das Ungemach eines ungebremsten Sturzes auf die harten Steingutplatten. Über das, worauf Joseph ausgerutscht war, mochte er gar nicht nachdenken. Entschlossen rappelte er sich hoch und hastete so wie er war, mit nackten Füssen und tropfnass zu dem Tisch, wo sein Freund lag.
„Franzl.“ Mit einem Kloß in der Kehle wandte er sich an den erfahrenen Arzt und Universitätsgelehrten. „Bitte sagen Sie mir, dass er auch wieder aufwacht.“ Liebevoll tätschelte Joseph August Lafarche seinem Studienkollegen, bestem Freund und Saufkumpan die Wange.
Matthäus Collin schüttelte traurig den Kopf. Vorsichtig drehte er das Haupt des Toten und zeigte auf eine Wunde, die nicht nur den Blick auf den Schädelknochen freigab, sondern auch auf die gräulich weiße Masse, die es eigentlich zu schützen galt.